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Wie eine Minderheit leben, wie eine Mehrheit träumen

Ein Gespräch mit Omer Meir Wellber

Das Gespräch führte Dramaturg Peter te Nuyl

PtN: Richard Strauss’ Salome, Verdis Requiem, Richard Wagners Die Walküre, Franz Lehárs Die lustige Witwe – 23/24 ist eine herausfordernde Saison, die vor dir liegt.

OMW: Ich würde eher sagen: Das ist ein grandioses Angebot an unser Publikum. Denn alle diese Werke, in denen sehr ernste Themen verhandelt werden, sind letztlich auch als Unterhaltungskunst geschrieben. Dabei hat es keine Bedeutung, ob es um Komik oder Sex oder um Religion geht.

Das klingt nach den existenziellen Zutaten des Lebens, nicht wahr?

Absolut! Insofern gibt es für mich im Kern zwischen Salome, Verdis Requiem, der Walküre und der Lustigen Witwe eine große Parallele. Die vier Titel, alles übrigens Schlüsselwerke ihrer Zeit, berühren im Grunde zutiefst menschliche Themen: Angst oder Hoffnung oder Dummheit.

Verstehst du Salome als ein symbolistisches oder psychologisches Stück?

Man kann Salome nicht aus dem zeitgeschichtlichen Kontext reißen, in dem es geschrieben wurde – die große Revolution der Psychologie von Freud und Jung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die natürlich auch die Künste erschüttert hat. Oscar Wilde und Richard Strauss etwa haben das Verständnis vom Bewusstsein und dem Unbewussten sowie die generelle Bedeutung der Freud’schen Erkenntnisse für die moderne Gesellschaft auf eine neue, künstlerische Ebene gehoben. Dabei sollte man nicht vergessen, dass Freud Wissenschaft und Gesellschaft zunächst gespalten hat. Nicht alle sind ihm gefolgt. Cosima Wagners Reaktion auf Salome war dafür bemerkenswert und bezeichnend: Hatte sie Strauss immer in der künstlerischen Nachfolge ihres Mannes gesehen, änderte die Oper Salome für sie mit einem Schlag alles. Sie schrieb Strauss einen Brief mit den Worten: „Du hast das Schiff verlassen und du gehörst nicht länger zur Familie.“ Als kluge Frau hat sie sehr genau begriffen, dass Strauss mit seiner Salome einen radikal anderen Weg eingeschlagen hatte. Einen, den sie nicht mittragen konnte oder wollte. Stellt man Strauss Wagner gegenüber, die Salome der Walküre, dann sieht man schon im literarischen Stoff den zivilisatorischen Fortschritt, den die gesellschaftliche Zuwendung der Menschen zu ihrer seelischen Verfassung mit sich brachte. Die Oberflächlichkeit von Wagners Helden und die sehr eindimensionale und schon deswegen problematische Rolle der Frau in seinen Werken, die den Mann rettet und als die eigentlich Starke am Ende verschwindet, das heißt sterben muss, wird ausgerechnet durch Strauss‘ Oper augenfällig. Strauss hat am Rollenverständnis gerüttelt. Genau das hat Cosima erkannt. Ertragen konnte sie es nicht.

War es einfach der Zeitgeist, der Strauss dazu bewogen hat, das Wagner‘sche Schiff zu verlassen?

Wesentlich dafür war seine Zusammenarbeit mit Schriftstellern. Strauss hat sich die Literatur zu eigen gemacht, mehr als das, vielleicht sogar einverleibt. Und sich damit natürlich eines hochaktuellen literarischen Materials bedient, an dessen Niveau die Texte Wagners in keiner Weise herankamen. Die Radikalität der Texte und der Aufbruch, der sich darin manifestiert, führt natürlich auch zu einer ganz anderen Art, dafür zu komponieren. Salome ist ein äußerst psychologisches Werk, in welchem das Bewusste und Unbewusste am Beispiel einer in der Kunst schon fast zum Mythos verklärten Frau thematisiert werden und damit die Frauenrolle ganz neu definieren: die Triebe der Frau, die Frauen bis dahin abgesprochen wurden, die willentliche Grausamkeit, die keinesfalls mit ihnen verbunden werden durfte, und gelebte Erotik, was gar nicht ging. Dieser Blick auf die Frau war damals revolutionär. Das ist er natürlich heute nicht mehr. Heutzutage kommen uns Salomes Probleme nicht einmal mehr besonders provokant vor. Allerdings ist das Werk für mich über das Psychologische hinaus von ungeheurer Symbolkraft und deswegen in Bezug auf die Rolle der Frau immer noch aktuell und sehr, sehr stark.

Wie ist es, Die lustige Witwe ausgerechnet in Wien zu dirigieren?

Dieses Stück liegt in der DNA des Hauses und seines Orchesters. Und das ist sehr schön, denn so kann ich viel über die Menschen und die Tradition hierzulande lernen, was ich sehr genieße. Für mich ist das eine ganz andere Erfahrung, als ein Stück gemeinsam von Grund auf neu zu erschaffen. Eine andere Sache, die ich ebenso spannend finde, ist die Zusammenarbeit mit Mariame Clément, denn Mariame ist fantastisch. Ich glaube, wir können durch ihre künstlerischen Fähigkeiten eine wirklich unterhaltsame und witzige Witwe auf die Bühne bringen. Ich möchte das Wort „anders“ vermeiden, denn die Witwe wird im Wesentlichen nicht anders sein, aber in ihrem Witz und ihrer Unterhaltsamkeit ungemein präsent und stark. Ein tolles Frauenbild, extrem modern...

Wie ist es, als Jude das Verdi-Requiem aufzufuhren, sozusagen religionsübergreifend zu arbeiten?

Ich glaube nicht, dass man das Verdi- Requiem ausschließlich religiös verstehen muss. Das gilt meiner Meinung nach übrigens für alle Werke: Man darf sie ihres rein religiösen Kontextes natürlich entheben. Somit ist das Verdi-Requiem für mich persönlich auch kein religiöses Werk. Das Verdi-Requiem repräsentiert nicht die Kirche. Dieses Stück repräsentiert allein eine Person: Verdi selbst. Und damit kann ich mich identifizieren. Denn ich fühle mich Verdi und seiner Musik sehr verbunden, von ihm verstanden, wenn man so will. Wenn ich ihn dirigiere, habe ich immer das Gefühl, das wir die gleichen Träume, Ängste und Probleme teilen.

Das bezieht sich vor allem auf die Noten, auf die Musik, aber was ist mit dem lateinischen Text?

Der Grund, dass Verdi diesen Text verwendet, liegt meiner Meinung nach darin, dass er ihn als ein Instrument, als ein Ausdrucksmittel für seine Angst vor dem Tod ausgewählt hat. Bach war Lutheraner, Verdi Katholik, Bernstein Jude. Worin genau liegt der Unterschied in der Angst vor dem Tod zwischen dem Verdi-Requiem, Bachs H-Moll-Messe und Leonard Bernsteins Kaddish-Symphonie? Gibt es überhaupt einen Unterschied in der Art und Weise, wie sich jeder von ihnen vor dem Tod fürchtet? Ich denke nicht. Da wird es noch nicht einmal einen Unterschied zu uns allen geben. Wahrscheinlich hat jeden von uns schon einmal die Ahnung dieses Gefühls der Angst vor den letzten 30 Sekunden des Lebens beschlichen, vor diesem Moment, bevor wir die Augen schließen. Es ist nicht einmal die Angst vor dem Tod, es ist die Angst vor diesem Moment der absoluten Einsamkeit, dieser Moment des wirklichen Alleinseins, die eben auch in der Kunst thematisiert wird. Glaub mir, da gibt es in der Ahnung von und in der Angst vor diesem letzten Moment keinen Unterschied zwischen Verdi, Bach, Tarantino oder Bob Dylan. Leonard Bernstein hat einmal von sich gesagt, dass er als Jude wie eine Minderheit leben, aber wie eine Mehrheit träumen will. Ich kann das sehr gut nachvollziehen. Wie eine Minderheit zu leben bedeutet, dass man sich immer um jenen Teil der Gesellschaft kümmert, der leidet. Und wie eine Mehrheit zu träumen bedeutet, dass ich in der Lage bin, wie jemand zu träumen, der frei von Last ist. Wie jemand, der wirklich Grenzen überschreiten kann. Und dann werden wir sehen, was wir in der nächsten Saison erfinden werden. 

Das komplette Gespräch lesen Sie in unserer gedruckten Saisonvorschau.

Alles zur Spielzeit 2023/24 lesen Sie hier.